Kaum eine andere Minderheit wird in Europa so stark benachteiligt wie Sinti und Roma. Im Interview mit FAIRPLAY GLOBAL plädiert Marko Knudsen vom Europäischen Zentrum für Antiziganismusforschung (EZAF) für eine stärkere Bildung der Mehrheitsgesellschaft und positive Diskriminierung.
Herr Knudsen, immer wieder wird über die Auflösung von Romalagern in Frankreich und deren Quasi-Abschiebung in Länder wie Rumänien, Serbien und Kosovo berichtet. Ärgert es Sie, dass Roma nur in diesen Zusammenhängen den Weg in die Medien finden?
Über Roma wird entweder romantisch berichtet oder im Zusammenhang mit Kriminalität. Es kommt selten vor, dass über uns als Minderheit, als Opfer und Verfolgte berichtet wird. Man zeigt die Armut und das Elend unseres Volks und fragt nicht, wo die Ursachen liegen. Ich würde mir wünschen, dass Vertreter der Roma mehr selbst zu Wort kommen, anstatt dass immer über sie berichtet wird.
Wo liegen die Ursachen?
Das größte Problem ist die europäische Gesellschaft. Sinti und Roma werden immer noch konfrontiert mit den Vorurteilen, mit dem Konstrukt des Zigeuners, welches im Mehrheitskulturkodex von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Die Vorurteile sind zum großen Teil historisch erklärbar. Ich will ihnen ein Beispiel nennen:
das, was von der Mehrheitsgesellschaft als Nomadentum wahrgenommen wird, die Freiheit, die Romantik, das Ignorieren von Gesetzen, das ewige Reisen, all das hat mit der Realität wenig zu tun. Der Großteil der Roma lebt seit Generationen am selben Ort. Das einzige, was die Menschen dazu bringt, ihren Wohnort zu verlassen, sind Situationen, in denen ihr Überleben gefährdet ist. Wenn sie aufgrund der Diskriminierung keine Arbeit finden, wenn sie Angst um ihr Leib und Leben haben oder nicht mehr überleben können, flüchten sie. Und dieses negative Bild der Roma wird dann – auch medial – weiter vermittelt.
Sinti und Roma sind eine der am stärksten benachteiligten Minderheiten Europas. Wie konnten die Integrationsbemühungen derart scheitern?
Uns wird von der Gesellschaft, die uns umgibt, signalisiert, dass wir nicht erwünscht sind und erst recht nicht dazugehören sollen. In den letzten 20 Jahren sind auf EU-Ebene Hunderte von Millionen Euro ausgegeben worden, um Roma zu integrieren. Ich kann Ihnen aber kein einziges Programm nennen, das wirklich sinnvoll war. Die Maßnahmen gehen meist an den Problemen der Menschen vorbei.
Kritikern zufolge scheitern viele Integrationsprogramme aber auch an mangelndem Interesse seitens der Menschen, deren Leben sie verbessern sollen.
Man muss sich vor Augen führen, dass wir seit 600 Jahren ein traumatisiertes Volk sind. Diese Traumatisierungen werden von Generation zu Generation weitergegeben. Das ist auch ein Grund dafür, wie wir auf die Mehrheitsgesellschaft reagieren. Die Furcht vor jeder staatlichen Gewalt ist uns seit Generationen durch Erfahrungen eingeimpft worden. Ob Schule, Polizei oder Gerichte – wir haben selten Recht bekommen. Die vorgeblich selbst gewählte Isolation ist ein Schutzmechanismus, der auf Ausgrenzung basiert.
Wie erklären Sie sich, dass Sinti und Roma ausgerechnet zu Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise wieder verstärkt in den Fokus von Justiz und Medien geraten?
Die Situation verschlechtert sich seit dem Mauerfall dramatisch und hat sich mit der Wirtschaftskrise noch einmal potenziell verschlechtert. Seitdem sind wir wieder der Lieblingssündenbock in vielen europäischen Gesellschaften. Das hängt mit der historischen Angst vor dem Fremden zusammen, aber auch mit der Angst vor dem Islam. Schließlich sind wir mit dem osmanischen Reich nach Europa gekommen. Man kriminalisiert und entmenschlicht uns, um gegen uns vorgehen zu können. Die Tatsache, dass deutsche Behörden Roma, die zum Teil seit 15 Jahren in Deutschland leben und gut integriert sind, einfach ins Kosovo oder nach Serbien abschieben, spricht Bände. Kein Mensch verlässt freiwillig sein Heimatland, in dem er aufgewachsen ist und seit Generationen Wurzeln hat. Diese Migrationsbewegungen entstehen aus der Not. Man vergrößert durch den Umgang mit den Roma in dieser europäischen Union die Probleme, statt sie zu bekämpfen.
Sie selbst sind ja Vater zweier Kinder. Welche Erfahrungen sammeln sie?
Das Problem beginnt mit Mobbing. Mein Sohn ist schon auf dem Spielplatz als Zigeunerkind beschimpft worden – paradoxerweise, weil meine Frau ungarisch spricht. Die Vorurteile werden in vielen Familien weitergegeben und teilweise tradiert über Medien. Seitdem ich mich mit 14 Jahren meinen Lehrern gegenüber geoutet hatte, hatte ich nur noch Probleme in der Schule. Es ist nicht immer gut, sich zu outen. Und die, die es schaffen, haben Probleme. Es gibt viele Roma auch in öffentlich sichtbaren Positionen, die ihre ethnische Herkunft aber verheimlichen.
Laut Experten beginnt die Diskriminierung oft schon beim Zugang zu Bildung, also vor oder während der Schulzeit.
Damit haben Sie Recht. Es ist sehr schwierig, Kinder an der Regelschule zu halten, da viele Lehrer sich aus der Kiste der Vorurteile bedienen, um sich die Kinder zu erklären. Für Viele heißt es dann schnell, die Kinder seien „bildungsfern“ oder „problematisch“, und dann wird das Kind auf Förderschulbedarf getestet. Merkwürdigerweise fallen die Kinder durch den Test. Egal, wie viele Sprachen sie sprechen, egal, ob die Familie seit zehn Jahren im Ort lebt oder seit mehreren Generationen. Die Probleme sind dieselben. Oder Sie outen sich nicht, um durch die Schule zu kommen – oft auf Kosten der eigenen Identität.
Wie lässt sich das Zusammenleben der Mehrheitsgesellschaft mit Sinti und Roma verbessern?
Das Problem lässt sich durch stärkere Aufklärung der Bevölkerung und durch positive Diskriminierung lösen. Gäbe es Quoten auf dem Arbeitsmarkt und in den Hochschulen, und würden Kinder nicht in aller Regel auf Sonderschulen kommen, wären wir schon einen großen Schritt weiter. Wir müssen das Bild des „Zigeuners“ dekonstruieren und Antiziganismus unter Strafe stellen.
Wie kann die Mehrheitsgesellschaft ihre Vorurteile gegenüber Sinti und Roma überwinden?
Jeder einzelne kann die Erkenntnis, die er selbst gewonnen hat, weitertragen. Das ist das einzige, was wirklich effektiv ist. Es reicht nicht, die intellektuellen zehn Prozent zu überzeugen. Die anderen 90 Prozent haben auch ihre Erlebnisse mit Sinti und Roma und sammeln sich aus der Kiste der Vorurteile Erklärungen zusammen. Das funktioniert nur in kleinen Schritten. Ich habe gelernt, dass Kopf für Kopf überzeugt werden muss, denn in jedem Kopf stecken antiziganistische Gedanken. Ich sage immer: Sie können mich alles fragen. Es gibt keine bösen Fragen, es gibt nur böse Behauptungen.
Das Interview führte Christoph Behrends
Herr Knudsen, immer wieder wird über die Auflösung von Romalagern in Frankreich und deren Quasi-Abschiebung in Länder wie Rumänien, Serbien und Kosovo berichtet. Ärgert es Sie, dass Roma nur in diesen Zusammenhängen den Weg in die Medien finden?
Über Roma wird entweder romantisch berichtet oder im Zusammenhang mit Kriminalität. Es kommt selten vor, dass über uns als Minderheit, als Opfer und Verfolgte berichtet wird. Man zeigt die Armut und das Elend unseres Volks und fragt nicht, wo die Ursachen liegen. Ich würde mir wünschen, dass Vertreter der Roma mehr selbst zu Wort kommen, anstatt dass immer über sie berichtet wird.
Wo liegen die Ursachen?
Das größte Problem ist die europäische Gesellschaft. Sinti und Roma werden immer noch konfrontiert mit den Vorurteilen, mit dem Konstrukt des Zigeuners, welches im Mehrheitskulturkodex von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Marko D. Knudsen ist Vorstand des EZAF © Fairplay Global |
das, was von der Mehrheitsgesellschaft als Nomadentum wahrgenommen wird, die Freiheit, die Romantik, das Ignorieren von Gesetzen, das ewige Reisen, all das hat mit der Realität wenig zu tun. Der Großteil der Roma lebt seit Generationen am selben Ort. Das einzige, was die Menschen dazu bringt, ihren Wohnort zu verlassen, sind Situationen, in denen ihr Überleben gefährdet ist. Wenn sie aufgrund der Diskriminierung keine Arbeit finden, wenn sie Angst um ihr Leib und Leben haben oder nicht mehr überleben können, flüchten sie. Und dieses negative Bild der Roma wird dann – auch medial – weiter vermittelt.
Sinti und Roma sind eine der am stärksten benachteiligten Minderheiten Europas. Wie konnten die Integrationsbemühungen derart scheitern?
Uns wird von der Gesellschaft, die uns umgibt, signalisiert, dass wir nicht erwünscht sind und erst recht nicht dazugehören sollen. In den letzten 20 Jahren sind auf EU-Ebene Hunderte von Millionen Euro ausgegeben worden, um Roma zu integrieren. Ich kann Ihnen aber kein einziges Programm nennen, das wirklich sinnvoll war. Die Maßnahmen gehen meist an den Problemen der Menschen vorbei.
Kritikern zufolge scheitern viele Integrationsprogramme aber auch an mangelndem Interesse seitens der Menschen, deren Leben sie verbessern sollen.
Man muss sich vor Augen führen, dass wir seit 600 Jahren ein traumatisiertes Volk sind. Diese Traumatisierungen werden von Generation zu Generation weitergegeben. Das ist auch ein Grund dafür, wie wir auf die Mehrheitsgesellschaft reagieren. Die Furcht vor jeder staatlichen Gewalt ist uns seit Generationen durch Erfahrungen eingeimpft worden. Ob Schule, Polizei oder Gerichte – wir haben selten Recht bekommen. Die vorgeblich selbst gewählte Isolation ist ein Schutzmechanismus, der auf Ausgrenzung basiert.
Wie erklären Sie sich, dass Sinti und Roma ausgerechnet zu Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise wieder verstärkt in den Fokus von Justiz und Medien geraten?
Die Situation verschlechtert sich seit dem Mauerfall dramatisch und hat sich mit der Wirtschaftskrise noch einmal potenziell verschlechtert. Seitdem sind wir wieder der Lieblingssündenbock in vielen europäischen Gesellschaften. Das hängt mit der historischen Angst vor dem Fremden zusammen, aber auch mit der Angst vor dem Islam. Schließlich sind wir mit dem osmanischen Reich nach Europa gekommen. Man kriminalisiert und entmenschlicht uns, um gegen uns vorgehen zu können. Die Tatsache, dass deutsche Behörden Roma, die zum Teil seit 15 Jahren in Deutschland leben und gut integriert sind, einfach ins Kosovo oder nach Serbien abschieben, spricht Bände. Kein Mensch verlässt freiwillig sein Heimatland, in dem er aufgewachsen ist und seit Generationen Wurzeln hat. Diese Migrationsbewegungen entstehen aus der Not. Man vergrößert durch den Umgang mit den Roma in dieser europäischen Union die Probleme, statt sie zu bekämpfen.
Sie selbst sind ja Vater zweier Kinder. Welche Erfahrungen sammeln sie?
Das Problem beginnt mit Mobbing. Mein Sohn ist schon auf dem Spielplatz als Zigeunerkind beschimpft worden – paradoxerweise, weil meine Frau ungarisch spricht. Die Vorurteile werden in vielen Familien weitergegeben und teilweise tradiert über Medien. Seitdem ich mich mit 14 Jahren meinen Lehrern gegenüber geoutet hatte, hatte ich nur noch Probleme in der Schule. Es ist nicht immer gut, sich zu outen. Und die, die es schaffen, haben Probleme. Es gibt viele Roma auch in öffentlich sichtbaren Positionen, die ihre ethnische Herkunft aber verheimlichen.
Laut Experten beginnt die Diskriminierung oft schon beim Zugang zu Bildung, also vor oder während der Schulzeit.
Damit haben Sie Recht. Es ist sehr schwierig, Kinder an der Regelschule zu halten, da viele Lehrer sich aus der Kiste der Vorurteile bedienen, um sich die Kinder zu erklären. Für Viele heißt es dann schnell, die Kinder seien „bildungsfern“ oder „problematisch“, und dann wird das Kind auf Förderschulbedarf getestet. Merkwürdigerweise fallen die Kinder durch den Test. Egal, wie viele Sprachen sie sprechen, egal, ob die Familie seit zehn Jahren im Ort lebt oder seit mehreren Generationen. Die Probleme sind dieselben. Oder Sie outen sich nicht, um durch die Schule zu kommen – oft auf Kosten der eigenen Identität.
Wie lässt sich das Zusammenleben der Mehrheitsgesellschaft mit Sinti und Roma verbessern?
Das Problem lässt sich durch stärkere Aufklärung der Bevölkerung und durch positive Diskriminierung lösen. Gäbe es Quoten auf dem Arbeitsmarkt und in den Hochschulen, und würden Kinder nicht in aller Regel auf Sonderschulen kommen, wären wir schon einen großen Schritt weiter. Wir müssen das Bild des „Zigeuners“ dekonstruieren und Antiziganismus unter Strafe stellen.
Wie kann die Mehrheitsgesellschaft ihre Vorurteile gegenüber Sinti und Roma überwinden?
Jeder einzelne kann die Erkenntnis, die er selbst gewonnen hat, weitertragen. Das ist das einzige, was wirklich effektiv ist. Es reicht nicht, die intellektuellen zehn Prozent zu überzeugen. Die anderen 90 Prozent haben auch ihre Erlebnisse mit Sinti und Roma und sammeln sich aus der Kiste der Vorurteile Erklärungen zusammen. Das funktioniert nur in kleinen Schritten. Ich habe gelernt, dass Kopf für Kopf überzeugt werden muss, denn in jedem Kopf stecken antiziganistische Gedanken. Ich sage immer: Sie können mich alles fragen. Es gibt keine bösen Fragen, es gibt nur böse Behauptungen.
Das Interview führte Christoph Behrends
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